Öffne die Augen! NYH Gummi Compagnie

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Öffne deine Augen!

Die zugebretterten Fenster wirken wie zwei halb geschlossene, schläfrige Augen. Ein Vampir schwebt über der linken Braue.
Der Tag begann mit klarer Ansage. Auf dem Weg zur Gummifabrik, ausgerüstet mit Kamera und iPhone, verlieh das zunehmend betrübte Tageslicht der Ruine jedoch genau das passende Flair, das sie seit Jahren umgibt: dunkel, wuchtig, mit Hinweisen auf Lebensgefahr, wenn man sich zu nah heran wagen würde.

Nichts ist fency, sonnig, sentimental hier. Rotklinker im richtigen Sonnenlicht zeigt alle seine schönen Rotfacetten; im Grau jedoch, überwiegen auch hier die Grauanteile.
Fast alle Fenster sind entweder eingeworfen oder mit Graffiti übersprüht. Das Mauerwerk bröckelt und ist ebenfalls an vielen Stellen mit Graffiti versehen. Durch eines der zerbrochenen Fenster gelingt sogar ein Blick ins Innere. Auch dort – Verfall, Graffiti, Trostlosigkeit. (siehe Bilder Galerie)

Sich das Gebäude bewußt aus der Nähe anzuschauen ist ernüchternd.
All die potenziellen Möglichkeiten, die die Größe, Gestalt und Lage des Areals mit sich bringen, um z.B. ein großzügiges Kulturzentrum entstehen zu lassen, werden beim genauen Betrachten sofort mit einer großen Frage konfrontiert:

Wie soll das alles gehen?

Fassade NYH an Neuländer Strasse in Harburg.
Seit Jahren versuchen viele Beteiligte, dieser Frage nachzugehen, ohne dass Fortschritte konkret angekündigt werden können. Derweil schreitet der Verfall voran.
 
Aber – worum geht es hier eigentlich genau?

Die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie in Harburg

Hier wurden Hartgummi Produkte hergestellt. Zum Beispiel „Klarinetten-, Saxofonmundstücke und Fagottrohre aus der NYH Ebonitmischung für den gehobenen Musikbedarf“ oder Präzisionsbauteile für die Industrie.
Seit 2009 hat die Belegschaft der New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie ihr neues Werk nahe Lüneburg bezogen und im Neuländer Quarree einen Gebäudekomplex hinterlassen, der über die Jahre nach dem Broken-Window-Prinzip zu einem düsteren Klotz heruntergekommen ist. Die Google Suche nach diesem Areal zeigt viele Beiträge mit dem treffenden Hashtag #Lost Place.
Geht man im Dunkeln an der Fassade vorbei, fühlt man sich an New Yorker Klischees der Bronx aus den 70ern erinnert. Die Höhe und Größe ist einschüchternd.

Was also kann man hier entstehen lassen?

2010 gab es erste große Pläne, was mit dem Areal geschehen sollte. Die Eigentümer wechselten. Alles wurde teurer, komplizierter.
Hinzu kommt, dass eine große Belastung mit krebserregenden Mitrosaminen festgestellt wurde. Die gilt es erst mal abzubauen. Überlegungen nur die Fassade zu belassen und dahinter alles neu zu bebauen, wurden verworfen. 

Der Denkmalverein warnte vor dem, längst stattfindenden, Verfall eines bedeutenden Denkmals und sieht Potenzial für die Weiterentwicklung eines neuen lebendigen Quartiers, das von seiner beeindruckenden Vergangenheit erzählen könnte, indem es Geschichte, Baugeschichte und Industriegeschichte vereint.IMG_1673
Das Gelände könnte sich sehr gut für ein Projekt ähnlich wie Kampnagel oder das Museum der Arbeit in Hamburg Barmbek eignen.

Die vorhandenen Strukturen – der Binnenhafen, die TU Harburg, der nahe gelegene Harburger Bahnhof – und die historische Bedeutung (siehe unten) könnten als Grundlage für ein kulturelles Zentrum dienen. Mit einer entsprechenden Renovierung und Umnutzung könnte das Areal zu einem Ort für künstlerische Aufführungen, Ausstellungen, Veranstaltungen und kreative Projekte werden. Kostbarer Wohnraum wäre nicht ausgenommen.

Nur – wer bezahlt es? Und wie kommt das Geld wieder rein? Wann findet die Sanierung statt, um sich der Nitrosaminen zu entledigen?
Ganz sicher werden viele weitere Jahre ins Land ziehen

Denn inzwischen gab es eine Pandemie, einen Ukraine Krieg, Inflation,… kurz: veränderte Bedingungen. Das Gelände und der Gebäudekomplex verrotten mehr und mehr.

Wie schade!

 

Die Geschichte

Erste deutsche Hartkautschukfarbrik – in Harburg

In den späten 1800er Jahren ließ sich die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie als erste deutsche Hartkautschukfabrik in der Nähe des Harburger Binnenhafens nieder, um Kämme herzustellen.

Harburger Gummi-Kamm-Compagnie um 1900 © WikipediaEine Luftaufnahme zeigt das Gelände der Hamburger Gummi-Kamm-Compagnie um 1900. 2009 wurde das Werk geschlossen. Bildquelle © Wikipedia

Das Gebiet, genannt „Die Koppel“, profitierte von seiner idealen Lage – direkt am Ende der Eisenbahnlinie nach Hannover und angeschlossen an den Seehafen. Diese Verbindung ermöglichte einen direkten Transport von Gütern zwischen Bahn und Schiff und machte Harburg schnell zu einem wichtigen Hafen- und Industriestandort. Das Unternehmen wurde 1866 durch einen Brand zerstört, aber danach wiederaufgebaut und im Laufe der Jahre erweitert.
Entlang der Neuländer Straße erstreckt sich ein beeindruckender fast 200 Meter langer Riegel aus dreigeschossigen Backsteinbauten mit markanten Gebäudeecken. Die Gebäudeteile zeigen verschiedene Zeitschichten, wobei der mittlere Teil noch Reste des Ursprungsbaus von 1866 aufweist. Die Architektur ist stark von der Hannoverschen Bauschule mit neogotischer Backstein-Formensprache geprägt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden weitere Veränderungen vorgenommen, sodass das Gelände und der Gebäudekomplex heute einen historischen Einblick in die Entwicklung der Industrie- und Backsteinarchitektur bietet.
Während des Wiederaufbaus von 1949 bis 1956 wurde z. B. ein zusätzliches Geschoss hinzugefügt, optisch durch ein Betongesims von den älteren Teilen getrennt. Dies verdeutlicht die Fortentwicklung der Industriearchitektur über zwei Jahrhunderte. Die Erdgeschosse der Gebäudeteile wurden im Laufe der Jahrzehnte den Produktionsabläufen angepasst.
Das Ensemble, als erste Hartgummifabrik des Deutschen Reiches, besitzt nicht nur eine hohe industriegeschichtliche Bedeutung, sondern prägt auch das Stadtbild des Industriegebiets des Harburger Binnenhafens maßgeblich.

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